24-Jähriger bewahrt Gruiten vor der Zerstörung

Am 16. April 1945 endete in Gruiten der Zweite Weltkrieg mit dem Einmarsch der Amerikaner.

Gruiten – Selbst die letzten Kriegs- und die ersten Nachkriegskinder sind längst im Rentenalter, die noch lebenden Zeitzeugen bereits mindestens 85 Jahre alt. Die Erinnerung an die Ereignisse am Ende des 2. Weltkriegs in Haan und Gruiten verblasst mehr und mehr.
Was zur „Kapitulation“ der beiden damals noch nicht vereinten Kommunen schriftlich festgehalten wurde, ergibt ein sehr unterschiedliches Bild: Während es in Haan am 16. April 1945 noch viele Tote gab, verlief die Übergabe von Gruiten an die Amerikaner durch eine mutige Entscheidung fast unblutig. So berichtete Dr. Reinhard Koll: „Am 16. April griffen die Amerikaner Hilden und Haan an. Vom Kuckesberg her war schon kurz nach Mitternacht heftiges Geschützfeuer zu hören, eine deutsche Batterie leistete dort heftigen Widerstand. In der Heide hatten Volkssturmleute und Fremdarbeiter Stellungen ausgehoben, Panzersperren sollten den Feind aufhalten. Es war befohlen worden, Post, Bahnhof und die Eisenbahnbrücke in Unterhaan zu sprengen. Am Vormittag rollten Panzer nach Haan. Am Sand- und Jaberg forderten die Amerikaner die deutschen Soldaten über Lautsprecher zur Übergabe auf, an die hundert nahmen dieses Angebot an.
Infolge des überraschend schnellen Einrückens der US-Streitkräfte und der panischen Flucht der deutschen Soldaten, kam es zu Schießereien. Die Akten berichten von 17 namentlich bekannten Gefallenen jenes Tages die meisten fielen auf der Kaiserstraße, wo auch ein Fabrikant vor seinem Haus umkam. Am gleichen Tag fuhren US-Panzer auch an der Millrather Straße auf, um die Verteidigungslinie zwischen Düsseldorf und Wuppertal entlang der Bahnlinie aufzubrechen, die eine von Haan nach Gruiten verlegte Einheit verteidigen sollte.“
Über die Ereignisse in Gruiten berichtet Gustav Kipp, der langjährige Direktor des Amtes Gruiten: „Am 15. April 1945 kam das Führungs-Einsatz-Bataillon 162 von Haan kommend in Gruiten an. Dem Bataillons-Führer, Oberleutnant Baczewski, war bekannt, daß die auf Gruiten anrückende amerikanische Panzerspitze beabsichtigte, die Verteidigungslinie des Ruhrkessels im Süden, etwa in der Mitte zwischen Düsseldorf und Wuppertal bei Gruiten, aufzubrechen. Entsprechend lautete der Verteidigungsauftrag, einen Durchbruch zu verhindern. Die Nacht vom 15. auf den 16. April 1945 hatte für die Soldaten und für die Gruitener Bevölkerung schicksalhafte Bedeutung. Der Keller des Hauses Bahnstraße 28, der als Gefechtsstand diente, sah den Bataillonsführer und den Hausherrn Walter Lohoff die ganze Nacht hindurch im Gespräch. Beide waren sich in der Beurteilung der Lage einig: eine Verteidigung Gruitens konnte den Vormarsch der Amerikaner wohl nur für Stunden oder Tage verzögern, letztlich aber nicht verhindern. Im Verteidigungsfall mußte vielmehr die von den amerikanischen Truppen angewandte Taktik die Zerstörung des Ortes zur Folge haben. Oberleutnant Baczewski gab im Morgengrauen des 16. April zu verstehen, daß deutscherseits keine Kampfhandlungen eröffnet würden. Inzwischen war es Tag geworden und dem Bataillonsführer wurde mitgeteilt, daß die amerikanische Panzerspitze am Südrand Gruitens aufgetaucht sei. Baczewski befahl sofort die Kompanieführer seines Bataillons zu einer Lagebesprechung in den Gefechtsstand-Keller im Hause Lohoff. In der Zwischenzeit wurde angeordnet, daß die vorbereitete Sprengung der Eisenbahnbrücke nicht auszuführen sei. In Anwesenheit von Walter Lohoff hat der Bataillonsführer den Kompanieführern vorgeschlagen, Gruiten den Amerikanern kampflos zu übergeben. Die anwesenden Offiziere billigten den Vorschlag. Ein Feldwebel meldete sich freiwillig, um mit der weißen Parlamentärsflagge vor Oberleutnant Baczewski herzugehen. Baczewski, der Bataillonsarzt und der Feldwebel traten, nachdem sie ihre Waffen abgelegt hatten auf die Bahnstraße hinaus. Im gleichen Augenblick wurde im Rathaus Gruiten die weiße Fahne gezeigt. Mitten auf der Brücke traf man zusammen. Baczewski bot die kampflose Übergabe Gruitens an. Er mußte einen Befehl an die deutschen Soldaten zurückschicken, sofort die Waffen niederzulegen und sich im Dorf zu versammeln. Es dauerte dann auch nicht lange und die ersten Gruppen deutscher Soldaten trafen waffenlos im Dorf ein. Mit ihnen gingen Oberleutnant Baczewski und seine Offiziere in amerikanische Gefangenschaft.“
Der 1945 erst 24-jährige Bataillonsführer ist in Gruiten nicht vergessen worden. 1956 schrieb Walter Lohoff: „Dem Herrn Johannes Baczewski wird hiermit bescheinigt, dass er am 16. April 1945 als Bataillonsführer die Gemeinde Gruiten kampflos an die amerikanischen Truppen übergeben hat. Er hat damit die Durchführung des strengsten Hitlerbefehles verweigert, die vorschrieb, dass bis zum letzten Mann gekämpft werden und standrechtliche Erschiessung aller sogenannten Kapitulanten erfolgen musste. Damit ist es Herrn Baczewski zu verdanken, dass damals Gruiten nicht zerstört wurde und dass blutige Opfer unter Soldaten und der Zivilbevölkerung vermieden wurden. Ich bin in meinem Hause Zeuge der letzten Offiziersbesprechung geworden, in welcher er die Einstellung der Kampfhandlungen vorschlug, weil er es mit seinem Gewissen nicht vereinbaren konnte, weiter zu kämpfen. Ich möchte hiermit im Namen aller Gruitener dem Herrn Johannes Baczewski für sein pflichtbewusstes, aber für ihn persönlich so gefährliches Verhalten unseren herzlichen Dank aussprechen.“
Und auch Baczewski hat Gruiten nicht vergessen: Zum 30. Jahrestag der Kapitulation hat er an Walter Lohoff, der ihn zusammen mit anderen Gruitenern bei seiner damaligen Entscheidung unterstützt hatte, geschrieben: „Ihr Einfluss, Ihr Alter und Ihre grauen Haare waren es, die mir am 16. April 1945 den richtigen Weg wiesen. Ich war ja damals noch so jung und ohne Sie hätte ich bestimmt die einzig richtige Handlungsweise nicht gefunden. Johannes Baczewski starb am 18. Juni 2004 im Alter von 83 Jahren. Der damalige Haaner Bürgermeister Martin Mönikes schrieb an seine Ehefrau: „Gerne nutze ich die Gelegenheit, Ihnen noch einmal zu versichern, dass die Menschen in Haan, besonders im Ortsteil Gruiten, Ihren Mann in dankbarer Erinnerung behalten werden. Wir können heute nur noch ahnen, in welche Lebensgefahr sich Ihr tapferer Mann begab, als er zum einen seinen Kompanieführern vorschlug – entgegen dem erteilten Befehl – die Eisenbahnbrücke nicht zu sprengen und Gruiten kampflos den Amerikanern zu überlassen.“
Im folgenden Jahr besuchte eine Abordnung der CDU Gruiten mit der damaligen Stadtverordneten Hildegard Treis die Familie und legte am Grab ein Blumengebinde nieder, auf dessen Schleife stand: „Zur Erinnerung an die Rettung der Gemeinde Gruiten am 16.4.1945“. Zum 66. Jahrestag der kampflosen Übergabe Gruitens an die Amerikaner (2011) wurde dann der tonnenschwere Gedenkstein für Johannes Baczewski mit einer großen Veranstaltung im Beisein seiner Töchter und Enkel sowie mehreren Zeitzeugen unter Beteiligung von Amtsträgern aus Gemeinde, Stadt und Kreis sowie beider Konfessionen enthüllt. Zum 70. Jahrestag wurde dann nach einer ökumenischen Feier im evangelischen Gemeindehaus eine Gedenktafel am Haus Bahnstraße 28 angebracht. Mit ihr wird die Erinnerung an die Männer wachgehalten, die damals an der für Gruiten schicksalhaften Entscheidung maßgeblich beteiligt waren. Eine für dieses Jahr geplante Gedenkfeier zum 75. Jahrestag muss wegen der Coronavirus-Krise ausfallen. low