Zuhörer kämpfen mit den Tränen

Das Lesekonzert zum Holocaust-Gedenktag bewegte die Menschen.

Haan – „Idioten – besinnt euch eurer Wurzeln! Heimwandern statt Einwandern“, las eine Sprecherin aus einem Brief der NPD aus dem Jahr 2012 an Bundestagsabgeordnete mit Migrationshintergrund vor. Eine weitere Sprecherin rezitierte die Äußerung eines unbekannten Lesers, er postete auf der Holocaust-Referenz-Seite: „stirb du Hund, verrecke an deiner rotze, welche ich die dir in die Fresse4 trete!“, und setzte wenige Minuten später nach: „juda verrecke!“ (Fehler wurden bewusst nicht korrigiert).
Fünf Sprecher der Musikschule Haan trugen in der Aula des Schulzentrums an der Walder Straße Hasstexte vor und wurden dabei musikalisch von mehreren Ensembles begleitet.
Am Sonntag, 26. Januar, zeigte die Musikschule in Kooperation mit der VHS Hilden-Haan und der Stabsstelle für Wirtschaftsförderung, Tourismus und Kultur der Stadt Haan das Lesekonzert „Vergiss nicht, dass Dein Satz eine Tat ist“.
Die Veranstaltung fand im Rahmen des bundesweiten Gedenktags der Befreiung des Konzentrationslagers Auschwitz statt. „Als Bildungseinrichtung sehen wir es als unsere Pflicht, die Gesellschaft, insbesondere die junge, mit diesen Themen zu konfrontieren“, sagte Musikschulleiter Thomas Krautwig bei der zwanzigsten Veranstaltung der Musikschule anlässlich des Holocaust-Gedenktages.
Sind die Deutschen gegen Judenhass und Fremdenfeindlichkeit immer noch nicht immun? Jaques Tilly, Wagenbauer beim Düsseldorfer Rosenmontagsumzug und Gestalter des bekannten „Kreis Mettmann“-Posters, weiß eine Antwort. Kontinuierlich bekommt der Künstler für seine Arbeit abwertende Hasskommentare. Seine politischen, religiösen oder gesellschaftskritischen Motto-Figuren, stehen auf der „schwarzen Liste“ radikaler Fanatiker.
Tilly war nur einer der an diesem Abend erwähnten Personen, die Ziel von Verleumdungen und antisemitistischen Hetzparolen sind. Der „Mackie Messer Song“ aus Berthold Brechts „Dreigroschenoper“ erklang. Eine neue Dimension veränderte die Perspektive: Ein Foto des ermordeten Politikers Walter Lübcke erschien.
Der ehemalige Bürgermeister der Hansestadt Lübeck Michael Boutellier ist täglich Opfer von „hate speech“-Kommentaren und Drohungen: „Du elendes rotes Dreckschwein!“, „Für solche Wildsäue wie Du eines bist, wäre die NS-Zeit viel zu human!“, „Nigger müssen sofort abgeschoben werden“ oder „Du bist bald ein mausetoter Bürgermeister“. Ein Trommelsolo setzte ein, dann das Orchester.
Die Musiker spielten Stücke wie „God Save the Queen“ und Auszüge aus „Mishima“ von Philip Glass. Auf der Leinwand erschienen Fotos von Dunja Hayali oder Anja Reschke – sie alle bekommen Hasskommentare.
Wie konnte diese Hassgesellschaft entstehen, wie viel Raum bietet Deutschland für sinnlose Antipathie und dumpfen Nationalismus? Mit diesen Fragen entließ das Lesekonzert seine Zuhörer. Manche von ihnen kämpften mit den Tränen. syja